Praxis-Eindrücke zu Apples Mac OS X Lion
"Gut gebrüllt, Löwe", heißt es, wenn jemand überzeugend wirkt - auch wenn weniger dahinter ist. Gut brüllen konnte Apple immer schon. Vor wenigen Tagen hat Apple das mit viel Getöse angekündigte OS X Lion (ohne "Mac" im Namen!) in den AppStore gestellt - die neueste Betriebssystem-Version für Macs. Nach ein paar Tagen Praxis zeigt sich, was gut und was eher schlecht gelungen ist. Ein Kommentar.

Genau betrachtet, ist OS X Lion ein enormer Schritt, der unseren Umgang mit Computern verändern wird. Sind erst einmal die wichtigsten Programme auf Lion angepasst, werden wir keine Dialoge wie "Wollen Sie die Datei xyz speichern"? "Ja", "Nein", "Abbrechen" mehr sehen. Nie wieder. Hat eh' nur noch ...
Genau betrachtet, ist OS X Lion ein enormer Schritt, der unseren Umgang mit Computern verändern wird. Sind erst einmal die wichtigsten Programme auf Lion angepasst, werden wir keine Dialoge wie "Wollen Sie die Datei xyz speichern"? "Ja", "Nein", "Abbrechen" mehr sehen. Nie wieder. Hat eh' nur noch genervt. Lion speichert automatisch, legt automatisch Versionen an, startet automatisch eine Anwendung wieder dort, wo man sie verlassen hat (Backups macht Mac OS X ja schon länger automatisch mit "Time Machine"). Muss der Rechner mal neu gebootet werden (was eh' selten ist), öffnet er von allein alle Anwendungen wieder so, wie es vorher war.

Steve Jobs bezeichnet das als "die Eliminierung des Dateisystems". Was für echte Computer-Profis wie ein Schreckgespenst klingt (weil man etwas Gewohntes, lieb Gewonnenes nicht so einfach aufgeben möchte), wird es dennoch das Leben mit dem Computer unglaublich beruhigen. Man kann sich sicher sein, dass immer noch eine ältere Version eines Dokuments da ist - ohne das man dafür etwas tun muss. Dank Spotlight weiß der Mac-User ja oft schon nicht mehr, wo seine Dateien eigentlich liegen. Ist auch nicht so wichtig, da man weiß, wie man in 5 Sekunden wieder rankommt. Man erhält das Gefühl, dass die eigenen Daten immer da sind, immer sicher sind. DAS ist eine deutliche Veränderung.
Leider wird diese Veränderung noch etwas auf sich warten lassen, weil Adobe und Microsoft natürlich nicht zum Start von Lion ihre Programme angepasst haben. D.h., die Programme, die am meisten mit unsinnigen Dialogen nerven, die man nicht abstellen kann, dürfen erst einmal weiter die Produktivität hemmen.
Wer ein Trackpad am Mac hat, wird eine zweite, an sich kleine Neuerung sehr begrüßen: Der stufenlose Zoom von Webseiten in Safari - ganz wie auf dem iPad. Die unglaublich intuitive Bedienung des iPads mit seinem Safari hat schon bei vielen iPad-User dazu geführt, dass sie lieber zum Tablet als zum Macbook greifen, wenn sie eine Seite ansurfen wollen. Per Doppel-Tapp eine Spalte vergrößern, mit den Finger den Zoomfaktor einstellen und in jede Richtung scrollen. Wer das einmal gelernt hat, möchte nicht mehr davon lassen. Genau das geht jetzt auch per Touch- und Trackpad am Mac - eine kleine, aber sehr komfortable Veränderung. Zusammen mit den vielen Gesten, die OS X Lion auch anderen Anwendungen beibringt (wie etwa der Vorschau, die jetzt auch Microsoft-Office-Dokumente anzeigt), könnte das der erste Schritt zur Abschaffung der Maus sein.

Von der Sonne in die Traufe
Aber: Apple hat nicht nur Verbesserungen eingeführt. Leider wurden zahlreiche Anpassungen vorgenommen, die vom iPad inspiriert auf einem Desktop-Gerät deutliche Verschlechterungen sind, insbesondere wenn man mit dem Mac als Arbeitsgerät und nicht als Privatmann unterwegs ist.
Ein paar Beispiele: Das neue Mail. Die 3-Spalten-Ansicht ist misslungen. Ich habe vorher mit dem Plug-In "Letterbox" gearbeitet, das schon dem alten Mail 3 Spalten beigebracht hat. Die mittlere Spalte war dabei auf Wunsch einzeilig, die Spalten einfach zu konfigurieren, so dass man eine sehr gute Übersicht auch über viele Mails auf einmal hatte.
Die neue Ansicht ist minimal zweizeilig und platzraubend. Die Übersicht ist komplett dahin. In der mittleren Spalte mit der Liste der Mails sind nur wenige Felder zu sehen. Absender und Adressat können nicht gleichzeitig angezeigt werden. Außerdem hat die Konversationsansicht noch Fehler, da alte Mails plötzlich unter neuen auftauchen (es gibt noch mehr Fehler in Mail: So erkennt das Programm bei den Suchbegriffen "Gestern", "Mai" oder "Juli" nicht als Zeitbegriffe, "yesterday", "March" oder "July" aber schon). Die alten Plug-Ins wirft das Programm leider raus. Man wünscht sich zum Bearbeiten von großen E-Mail-Mengen schnell das alte Mail zurück. Ein anderes Beispiel: iCal und Adressbuch. In iCal ist die linke Spalte mit den verschiedenen Kalendern in ein Pop-Up verschwunden. Wer täglich mit mehr als einem Kalender hantiert, muss nun fleißig Pop-ups her- und wegklicken. Das ist schon auf dem iPad lästig, jetzt aber richtig hinderlich. Im Adressbuch der gleiche Mist: die Linke Spalte mit den Gruppen ist weg. Man kann jetzt "schalten": Entweder sieht man Gruppen und rechts die Liste der Mitglieder. Oder man sieht eine Liste von Mitgliedern und rechts die Daten des ausgewählen Mitglieds. Die 3-Spalten-Ansicht ist weg. Was für ein Unsinn.
Beispiel Gesten: Als erstes fällt auf, dass das Scrollen mit zwei Finger in der Richtung vertauscht wurde. Wer nach unten zieht, scrollt jetzt nicht mehr nach unten, sondern nach oben. Apple meint, das sei natürlicher (wie beim iPad). Wer zwischen Lion-Maschinen und anderen Computern hin- und herwechseln muss, ist total verwirrt. Das gilt natürlich auch für das horizontale Scrollen von links nach rechts. Man könnte sich schon darauf einlassen, aber stimmig ist es nicht. Den Scrollbalken muss nach unten ziehen, um zum Ende zu kommen, den Inhalt selbst aber noch oben schieben, um ans Ende zu kommen. Der "Pfeil nach links" im Webbrowser ist zu nutzen, um zur vorigen Seite zu gelangen, mit Gesten ist die Seite aber nach rechts rauszuschieben, um zur vorigen Seite zu kommen. Noch alles klar?
Zum Glück kann man das wieder umstellen (und man sollte es auch). Aber mit den Gesten hat Apple es übertrieben. Es gibt so viele, dass man sich sie kaum merken kann: waren es zwei, drei vier Finger, wischen, zusammenziehen, auseinanderbewegen, drehen, mit Daumen oder ohne? Schnell fühlt man sich überfordert. Zur Verwirrung trägt bei, dass die Gesten (bis aufs Scrollen und Vergrößern) natürlich andere sind als in der Vorversion Snow Leopard. Gelegenheitsnutzer werden die Vielzahl der Gesten nicht behalten können. Der viel gepriesen Fullscreenmodus lässt sich übrigens nicht per Geste starten. Dazu muss man den Mauszeiger auf das kleine Symbol rechts oben bugsieren.
Wer kein "Magic Trackpad" oder Multitouch-Trackpad im Einsatz hat (sondern eine Maus), muss eh' mehr klicken. Das Launchpad ist dabei eine schlechte Kopie des iPad-App-Übersicht. Fürs iPhone ist die Ansammlung von Icons sinnvoll, fürs iPad mit seiner größeren Fläche schon sehr unübersichtlich. Auf einem 24-Zoll-Schirm ist das die Katastrophe der Übersichtlichkeit. Zu allem Überfluss kann man die Symbole noch nicht einmal frei positionieren. Sie rutschen immer nach links oben zusammen (vergleichbar mit dem "automatisch Ausrichten" von Windows). Löscht man ein Icon aus dem Launchpad, löscht man damit direkt die Anwendung von der Festplatte. Will man das? Zum Glück kann man auch unter Lion mit wesentlich besseren Quicklauncher wie "Overflow" weiterarbeiten und Launchpad ignorieren (oder aus dem Dock ziehen).
Auch "Mission Control" als Zusammenschluss von Spaces und Expose findet im Internet viel Kritik, weil Spaces sich nicht mehr zweidimensional anordnen lassen. Da Mission Control die Fenster einer Anwendung hintereinander anzeigt, muss man etwas mehr klicken, um an das gewünschte Fenster zu kommen. Hier muss die Praxis zeigen, was eher Sinn macht.

Fazit: bitte nachbessern!
Es ist nicht das erste Mal, dass Apple nach dem Veröffentlichen einer neuen OS-Version nachbessern sollte. Die optische und bedientechnische Anlehnung von Lion ans iPad ist aus Sicht eines Power-Users ein großer Rückschritt. Letztlich ist das neue Interface mit Gesten überladen, optisch zu verspielt und lösst die Gradlinigkeit und Praxistauglichkeit von Snow Leopard vermissen. Gelegenheitsnutzern mag das entgegen kommen - wer mit einem Mac täglich arbeitet, fühlt sich behindert. Bisher konnte Apple beide Anwendergruppen mit Mac OS X gut bedienen.
Dass das iPad ein großer Erfolg ist, hat Apple scheinbar die falschen Schlüsse für Macs ziehen lassen. Ein iPad ist bei der Bedienung ziemlich limitiert (oder möchten Sie auf dem iPad Bildbearbeitung, Zeitungslayout, Software-Entwicklung machen?). Die iPad-Oberfläche den Desktop-Usern aufzuzwingen, ist ein Schritt in die falsche Richtung. Auf dem Desktop gibt es viel Fläche (ein 27-Zoll-Schirm hat massig davon), warum also die Leisten von iCal und Adressbuch eliminieren? Dem Adressbuch fehlt eine Suchen- und Ersetzen-Funktion, (weil Firmen mit vielen Mitarbeitern durchaus mal umziehen), kein optischer Schnickschnack.
Für mich steht daher fest: Auf dem MacBook Pro in der Redaktion bleibt Snow Leopard, weil man damit einfach besser arbeiten kann - so gerne ich die Versions- und Backup-Funktionen auch nutzen würde. Da aber Microsoft und Adobe wahrscheinlich noch Jahre brauchen, um die neuen Funktionen einzubinden, ist die Not noch nicht allzu groß.